Arno Holz

Berliner Frühling

Wohl haben sie dich alle schon besungen

und singen dich noch immer an , o Lenz,

doch da dein Zauber nun auch mich bezwungen,

meld ich mich auch zur großen Konkurrenz.

Doch fürcht ich fast, ich bin dir zu prosaisch,

aus meinen Versen sprüht kein Fünkchen Geist;

und denk ich gar an deinen Dichter Kleist,

klingt meine Sprache mir fast wie Hawaisch.

 

Kein Veilchenduft versetzt mich in Ekstase,

denn ach, ich bin ein Epigone nur;

nie trank ich Wein aus einem Wasserglase,

und nüchtern bin ich bis zur Unnatur.

Der Tonfall meiner lyrischen Kollegen

ist mir ein unverstandner Dialekt,

denn meinen Reim hat die Kultur beleckt

und meine Muse wallt auf andern Wegen.

 

Ins Waldversteck verirrt sie sich nur selten,

die blaue Blume ist ihr längst verblüht;

doch zieht die Ahnung neugeborner Welten

ihr süßer als ein Märchen durchs Gemüt.

Zu Armut tritt sie hin und zählt die Groschen,

ihr rotes Banner pflanzt sie in den Streit,

an ihr Herz schlägt das große Herz der Zeit,

und aller Weltschmerz scheint ihr abgedroschen.

 

Doch heute singt sie, was ihr längst verboten,

mir scheint, dein Lächeln hat sie mir behext,

und unter deine altbekannten Noten

schreibt sie begeistert einen neuen Text.

Die Flur ergrünt, und bläulich blüht der Flieder,

ich aber leire meine Lenzmusik,

und lachend schon vernehm ich die Kritik:

Das denkt und singt ja wie ein Seifensieder!

 

Schon blökt ins Feld die erste Hammelherde,

der Hof hielt seine letzte Soirée,

und grasgrün überdeckt die alte Erde

kokett ihr weißes Winternegligée.

Der Wald rauscht wieder seine Lenzgeschichten,

und mir im Schädel rasselt kreuz und quer

ein ganzer Rattenkönig von Gedichten,

ein Reim- und Rhythmenungetüm umher.

 

Wie Gold in meine ärmliche Mansarde

Durchs offne Fenster fällt der Sonnenschein,

und graubefrackt lärmt eine Spatzengarde:

Ich schnitt es gern in alle Rinden ein!

Die Luft weht lau, und eine Linde süpreitet

grün übers Dach ihr junges Laubpanier,

und vor mir auf dem Tisch liegt ausgebreitet

fein säuberlich ein Bogen Schreibpapier.

 

O lang ists her, daß mirs im Hirne blitzte!

Im Winterschnee erfror die Phantasie;

erst heute wars, daß ich den Bleistift spitzte,

erst heut in dieser Frühlingsszenerie.

Weh, mein Talent versickert schon im Sande,

des eitlen Nichtstuns bin ich endlich satt;

drum, da ich ihn noch nie sah auf dem Lande,

besing ich nun den Frühling in der Stadt.

 

Denn nicht am Waldrand bin ich aufgewachsen,

und kein Naturkind gab mir das Geleit,

ich seh die Welt sich drehn um ihre Achsen

als Kind der Großstadt und der neuen Zeit.

Tagaus, tagein umrollt vom Qualm der Essen,

wars oft mein Herz, das lautauf schlug und schrie,

und dennoch, dennoch hab ich nie vergessen

das goldne Wort: Auch dies ist Poesie!

 

O wie so anders, als die Herren singen,

stellt sich der Lenz hier in der Großstadt ein,

er weiß sich auch noch anders zu verdingen,

als nur als Südwind und als Vollmondschein.

Er heult als Südwind um die morschen Dächer

und wimmert wie ein kranker Komödiant,

bis licht die Sonne ihren goldnen Fächer

durch Wolken lächelnd auseinanderspannt.

 

Und Frühling! Frühling! schallts aus allen Kehlen,

der Bettler hörts und weint des Nachts am Kai;

ein süßer Schauer rinnt durch alle Seelen

und durch die Straßen der geschmolzne Schnee.

Die Damen tragen wieder lange Schleppen,

zum Schneider eilt nun, wer sichs "leisten" kann,

die Kinder spielen lärmend auf den Treppen,

und auf den Höfen - singt der Leiermann.

 

Schon legt der Bäcker sich auf Osterkringel,

und seine Fenster putzt der Photograph,

der blaue Milchmann mit der gelben Klingel

stört uns tagtäglich nun den Morgenschlaf.

Mit Kupfern illustriert die Frauenzeitung

die neusten Frühjahrsmoden aus Paris,

ihre Feuilleton bringt zur Geschmacksverbreiting

den neusten Schundroman von Dumas fils.

 

Es tritt der Strohhut und der Sonnenknicker

nun wieder in sein angestammtes Recht,

und kokettierend mit dem Nasenzwicker

durchstreift den Park der Promenadenhecht.

Das ist so recht die Schmachtzeit für Blondinen,

und ach, so mancher wird das Herzlein schwer,

ein Duft von Veilchen und von Apfelsinen

schwingt wie ein Traum sich übers Häusermeer.

 

Am Arm das Körbchen mit den weißen Glöckchen,

das blonde Haar zerweht vom Frühlingswind,

lehnt bleich und zitternd im verschoßnen Röckchen

am Prunkpalast das Proletarierkind.

Geschminkte Dämchen und gezierte Stutzer,

doch niemand, der ihm schenkt ein freundlich Wort;

 

und naht sich abends der Laternenputzer,

dann schleicht es weinend sich ins Dunkle fort.

Verfolgt vom blutgen Schwarm der Manichäer,

umirrt nun Bruder Studio wie gehetzt;

bis er sich endlich rettet zum Hebräer

und seinen Winterpaletot versetzt.

Der Hypochonder sinnt auf Frühjahrskuren

und wettert auf die Stickluft der Salons,

der Italiano formt sich Gipsfiguren

und zieht vors Tor mit seinen Luftballons.

 

Nun geht die Welt kopfüber und kopfunter,

auf Sommerwohnung zieht schon der Rentier,

die Anschlagsäulen werden immer bunter,

und nächtlich wimmert oft das portemannaie.

Der Schornsteinfeger klettert auf die Leiter

und grinst uns an als Vogelperspekteur,

vor Klingeln kommt die Pferdebahnnicht weiter,

und alles brüllt: He, schneller, Kondukteur!

 

Das Militär wirft sich in Drillichhosen

und übt sich schwitzend im Paradeschritt,

als gings kopfüber gegen die Franzosen,

und krampfhaft schleppt es die Tornister mit.

Und blitzt der Exerzierplatz dann exotisch

wie ein gemaltes Farbenmosaik,

dann wird die Schusterjugend patriotisch

und lautauf spielt die Regimentsmusik.

 

Schon dampft der Kaffee hier und da im Garten,

der Schoßhund bellt, es kreischt der Papagei,

Papa studiert die kolorierten Karten

von Zoppot, Heringsdorf und Norderney.

In den geschlossenen Theatern trauern

die weichen Polstersitze des Parketts,

und rote Zettel predgen an den Mauern

die goldne Ära des Retourbillets.

 

An eine Spritztour denkt manch armer Schlucker,

doch dreht sie leider sich ums Wörtchen "wenn";

am gelben Gurt den schwarzen Opernkucker,

stelzt durchs Museum nun der Englishman.

Die Provinzialen aber schneiden Fratzen,

dank ihrer anerzognen Prüderie,

und unbemerkt nur schleichen sie wie Katzen

um unsere liebe Frau von Medici.

 

Doch drauß vorm Stadttor rauscht es in den Bäumen,

dort tummelt sich die fashionable Welt,

und junge Dichter wandeln dort und träumen

von ewigem Ruhm, Unsterblichkeit - und Geld.

Rings um die wieder weißen Marmormäler

spielt laut ein Kinderschwarm nun Blindekuh,

und heimlich gibt der Backfisch dem Pennäler

am Goldfischteich das erste Rendezvous.

 

Und macht die Nacht dann ihre stille Runde,

und blitzt es licht durchs dunkle Firmament,

dann ists die selbe Lenznacht, die zur Stunde

sich lagert um den Busen von Sorrent!

Dann ists der selbe Mond, der rings das Pflaster

sacht überdeckt mit seinem goldnen Vlies,

den vor Jahrtausenden schon Zoroaster

als ewigen Herold aller Lenze pries.

 

O Frühling! Frühling, dem die Welt gelodert,

du führst im Schild ein Röslein ohne Dorn;

daß uns das Herz nicht ganz vermorscht und modert,

stößt du noch immer in dein Wunderhorn.

Noch immer läßt du deine Nachtigallen

ins Frührot schlagen, wie zur Zeit Homers,

und hebst empor die Engel, die gefallen,

die kranken Söhne Fausts und Ahasvers.

 

Ob du vor Zeiten einst als junge Sonne

glorreich emporstiegst über Salamis,

indes Diogenes in seiner Tonne

sich philosophisch in die Nägel biß;

und ob dir heute noch im fernsten Norden

ein Opfer bringt der fromme Eskimo,

wie weiland an des Südmeers blauen Borden

der alte Mythenkönig Pharao:

 

Du bist und bleibst der einzig wahre Heiland,

dein schöner Wahlspruch jauchzt "Empor! Empor!"

Was soll uns noch ein waldumrauschtes Eiland?

Du wandelst um den Stadtwall auch durchs Tor!

Du bist nicht scheu wie deine Waldgespenster,

du setzt auch in die Großstadt deinen Fuß

und wehst tagtäglich durch das offne Fenster

mir in das Stübchen deinen Morgengruß.

 

Und jetzt, wo schon der Abend seine Lichter

rotgolden über alle Dächer strahlt,

krönst du mich lächelnd nun zu deinem Dichter

und hast mir rhythmisch das Papier bemalt.

Ich aber gebe dieses Blatt den Winden,

die Fangball spielen um den Kirchturmknauf,

und wenn noch heut die Straßenkehrer finden,

was kümmerts mich? Flieg auf, mein Lied, flieg auf!

 

Doch fällst du einem schönen Kind zu Füßen,

das dich errötend in den Busen steckt,

dann sprich zu ihm: "Der Frühling läßt dich grüßen!"

bis sie mit Küssen das Papier bedeckt.

Doch hascht ein Graukopf dich auf deinen Bahnen,

so ein vergilbter Langohr-Rezensent,

dann sprich zu ihm: "Respekt vor meinen Ahnen!

Mein Urtext steht im Sanskrit und im Zend!"

 

(1863-1929)