Karl Henckell

Berliner Abendbild

Wagen rollen in langen Reih'n,

magisch leuchtet der blaue Schein.

Bannt mich arabische Zaubermacht?

Tageshelle in dunkler Nacht!

Hastig huschen Gestalten vorbei,

keine fragt, wer die and're sei,

keine fragt dich nach Lust und Schmerz,

keine horcht auf der andern Herz.

Keine sorgt, ob du krank und schwach,

jede rennt ihrem Glücke nach,

jede stürzt ohne Rast und Ruh

der hinrollenden Dirne zu.

Langsam schlendr' ich im Schwarm allein -

magisch leuchtet der blaue Schein.

Kaufmann, Werkmann, Student, Soldat,

Bettler in Fetzen, Dirne im Staat.

Rechnend drängt sich der Kaufmann hin,

rechnet des Tages Verlust und Gewinn.

Werkmann bebt vor des Winters Not:

«Fänd' ich, ach fänd' ich mein täglich Brot!

Hungernd wartet die Kindenschar,

,s ist ein böses, ein böses Jahr.»

Bruder Studio zum Freunde spricht:

«Warte, das Mädel entkommt uns nicht!

Siehst Du, sie guckt; brillant, famos!

Walter, nun sieh' doch - die Taille bloß!»

Steht der Gardist in Positur,

weil der Hauptmann vorüberfuhr,

ließ seine Donna im Stich - allein:

«Ja, liebste Rosa, Respekt muss sein.»

«Blumen, Blumen, o kauft ein Bouquet,

Rosen und Veilchen, duftend und nett!

Bitte, mein Herr, ach so sei'n Sie so gut!»

«Scher' Dich zum Teufel, Du Gassenbrut!

Retzow, auf Ehre, wahrer Skandal.»

«Unter Kam'raden ganz egal.»

«Sehen Sie, bitte! Grandiose Figur,

wirklich charmant, merveilleuse Frisur.»

«Echt garantiert? Doch das macht nichts aus.

Hm! Begleiten wir sie zu Haus?»

«Neuestes Extrablatt! Schwurgericht!»

Hei, das drängt sich neugierig dicht.

«So ein Schwindler, ein frecher Hund,

schlägt erst tot und leugnet es rund.»

Wie das rasselt, summt und braust!

Wie es mir vor den Ohren saust!

Jahrmarkt des Lebens, so groß - so klein!

Magisch leuchtet der blaue Schein.

 

[1885]