Wie und warum man das Gleiche unterschiedlich hört

Der Klang der Münze

Ein weißer Mann war mit einem Indianer befreundet. Einmal besuchte der Indianer seinen Freund in der Großstadt. Als sie einer stark befahrenen Straße entlang gingen, bemerkte der Indianer: «Hörst du auch, was ich höre?» – «Was soll ich schon hören bei diesem Verkehrslärm», entgegnete der Freund. «Ich höre eine Grille zirpen», beharrte der Indianer. «Du kannst doch unmöglich eine Grille zirpen hören – bei diesem Lärm!» Der Indianer trat zur Seite, ging auf ein Haus zu, schob eine Weinrankenblatt zur Seite; und siehe da: Eine Grille hockte an der Hauswand.

«Ihr Indianer habt halt ein besseres Gehör als wir Weißen», versuchte sich der Freund herauszureden. «Das stimmt nicht, ihr hört so gut wie wir Indianer. Soll ich´s dir beweisen?» Der weiße Mann nickte. Der Indianer nahm eine Geldmünze aus der Tasche und warf sie auf den Gehsteig. Obwohl sie kein lauteres Geräusch machte als die zirpende Grille, drehten sich zwei, drei Passanten suchend um. 

«Siehst du», erklärte der Indianer, «ihr hört so gut wie wir; doch jeder nimmt nur das wahr, worauf sein Herz gerichtet ist.»

 Quelle: www.tauschnetz.ch 

 

Aufgabe:

  • Stell dir einmal vor, der Text endete so: «Siehst du», erklärte der Indianer, «ihr hört so gut wie wir; doch jeder nimmt nur das wahr, was er kennt.»

Bevor du den folgenden Absatz liest, entscheide für dich, ob das andere Ende einen wesentlichen Unterschied ausmacht.

 

Unserer Meinung macht das andere Ende deutlich, dass Erfahrung und Wissen die Wahrnehmung bestimmen. Das originale Ende ist zusätzlich - wahrscheinlich sogar in erster Linie - moralisierend: Der edle Wilde führt einem Mitglied der zivilisatorisch verkommenen Gesellschaft einen Mangel vor Augen: das Ausgerichtetsein auf das Geld, den schnöden Mammon. Darüber hinaus macht das originale Ende vielleicht noch deutlich, dass unsere Wahrnehmung Interesse geleitet ist.

Nach der Erinnerung des Verfassers dieses Artikels ist die ursprüngliche Erzählung in den 1970-iger Jahren zu verorten. Eine Zeit, in der auch eine öko-orientierte Version der "Rede des Häuptlings Seattle" verbreitet wurde und an Schulen sehr populär war.